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Montag, 2. Dezember 2013

In Kiew gehen die Proteste gegen Janukowitschs Wendung nach Osten weiter. Tausende Demonstranten blockieren das Regierungsviertel, legen den Verkehr lahm. Doch anders als gestern scheint es, als hätte die Staatsgewalt kapituliert.

Proteste gegen JanukowitschNoch ist die Ukraine nicht gestorben

 ·  In Kiew gehen die Proteste gegen Janukowitschs Wendung nach Osten weiter. Tausende Demonstranten blockieren das Regierungsviertel, legen den Verkehr lahm. Doch anders als gestern scheint es, als hätte die Staatsgewalt kapituliert.
© YULIA SERDYUKOVAVergrößernDemonstration im Schneeregen
Kiew, Flughafen Borispol, Grenzkontrolle. Gestern hat die Stadt gekocht – die größte Demonstration seit Menschengedenken ist über ihre Straßen gezogen, in der engen Bankowa-Straße unmittelbar am Präsidentenpalast hat es Gewalt gegeben, sogar schlimme Gewalt, aber auf den großen Plätzen und Magistralen, am Boulevard Chreschtschatik, einem monumentalen Denkmal des Hochstalinistischen Rokoko und vor allem auf dem „Maidan“, dem Unabhängigkeitsplatz im innersten Zentrum der Stadt, wo die allergrößte Mehrzahl der Demonstranten stand, war es bis zuletzt friedlich. Auch am Montag, am Tag danach, ist die Stimmung entspannt. Der Grenzer in seinem Kontrolleursverschlag lächelt, sobald er den Presseausweis im Pass sieht. „Journalist? Zum Maidan?“ – „Ja.“ – „Na dann, viel Glück“.
Der Chreschtschatik ist verbarrikadiert. An der Kreuzung Chmelnitzki-Straße, einem der wichtigsten Verkehrsknoten der Stadt, haben sie ein Dutzend Autos quergestellt, und später an der Einmündung zum Maidan noch einmal ein paar offenbar von der Polizei erbeutete Sperrgitter. Schon am frühen Mittag vor der Tribüne vielleicht zehntausend Menschen, und immer mehr ziehen den gesperrten Boulevard herauf. Junge Leute, Studentinnen mit Plastikblumenkränzen im Haar, oft in die blaue Europafahne gehüllt oder in die blaugelbe Flagge der Ukraine. Sie singen die Nationalhymne „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“, aber sie singen so fröhlich, dass man fast geneigt sein möchte, über die schreckliche Traurigkeit dieser Worte hinwegzusehen.

Die Lawine rollt

Das Kiewer Rathaus, ein beängstigender Monumentalbau aus den schlimmsten Zeiten des Stalinismus, ist in der Hand der Demonstranten. Vor dem Eingang drängen sich Trauben von Aufständischen, aber das „Komitee des nationalen Widerstands“, das dieser Tage entstanden ist, hat Ordner aufgestellt. An den Eingang hat jemand die Worte „Stab der Revolution“ gesprüht. Jeder wird eingelassen, denn dieses Haus gehört ja jetzt „dem Volk“. Aber Betrunkene, Schlägertypen und wer immer sonst dem friedlichen Ablauf der Erhebung gefährlich werden könnte, wird abgefangen.
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Für Live-Musik ist gesorgt© YULIA SERDYUKOVAVergrößernFür Live-Musik ist gesorgt
Vor dem besetzten Rathaus halten junge Leute ein Transparent mit der Aufschrift „EUKRAINE“ in den Schneeregen. Die Abkehr Präsident Viktor Janukowitschs vom Kurs der europäischen Integration, seine Weigerung, beim europäischen Gipfel in Vilnius am vergangenen Freitag ein schon fertig ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, hatte die Lawine ins Rollen gebracht. Vorher schon hatte es eine kleinere Dauerdemonstration in Kiew gegeben, aber am Abend als Janukowitsch unverrichteter Dinge aus Vilnius zurückkehrte, geriet die Lage außer Kontrolle.

„Sie schlagen Kinder“

Bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gegen vier Uhr am Samstagmorgen wurden 35 oft sehr junge Leute verletzt. Der Ruf „Sie schlagen Kinder“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer, unter anderem über das neu gegründete unabhängige Internetfernsehen Hromadske.tv (was soviel wie „öffentliches Fernsehen“ heißt). Tags darauf, am Sonntag, erlebte Kiew dann eine Eruption von Bürgerprotest, der selbst die intensivsten Tage der „Revolution in Orange“ (als der Kleptokrat Janukowitsch schon einmal vorübergehend von der Macht verdrängt wurde) weit in den Schatten stellte. Heute spricht man beim „Komitee des Nationalen Widerstands“ von 800000 Teilnehmern, einer geradezu halluzinatorischen Zahl, wenn sie wahr wäre. Beim Komitee heißt man habe Fotos, die sie belegen könnten.
Am Montag ist nach dem begrenzten Gewaltausbruch vom Sonntag buchstäblich kein einziger Polizist im Zentrum von Kiew zu sehen. Die Miliz ist wie vom Erdboden verschluckt, als hätte sie kapituliert, als sei der große städtische Raum zwischen Chreschtschatik und Maidan eine Art staatsfreie Zone. Nur die Ordner der Revolution, kenntlich gemacht durch Armbinden oder Aufkleber an ihren Jacken, sorgen für Ordnung – freundlich, aber durchaus bestimmt.
Der Gewaltausbruch am Sonntag vor dem Präsidentenpalast lässt sich mittlerweile gut rekonstruieren. Ein Kamerateam dieser Zeitung hat Bilder mitgebracht, aus denen hervorgeht, dass die Gewalt in der engen Bankowa-Straße, der Zufahrt zum Amtssitz Janukowitschs, nicht von der Polizei ausging. Maskierte Demonstranten sind zu sehen, die kiloschwere, scharfkantige Betonpflastersteine auf die Polizeikordons werfen, mit Knüppeln auf die reglos dastehenden Polizisten einschlagen, die, hinter Blechschilden barrikadiert, offenbar ratlos auf Befehle warten. Augenzeugen berichten, erst nach Minutenlangem Bombardement sei die Polizei zum Gegenangriff übergegangen – dann allerdings mit wahlloser Gewalt, umgeben von Tränengaswolken. Wer nicht schnell genug rannte, wurde blutig geschlagen, und ein Fotograf dieser Zeitung wurde von einer Schreckgranate leicht verletzt.

Die Logik der Ereignisse

Trotz dieser lokalen Explosion ist der überwältigende Teil der Großdemonstration am Sonntag und danach auch ihre viel kleinere Fortsetzung am Montag friedlich geblieben. Die Behörden schreiben die Angriffe auf die Polizei in der „Bankowa“ einer radikalen Organisation namens „Bratstwo“ (Bruderschaft) zu, unter Demonstranten gilt es nicht als ausgeschlossen, dass diese Zuschreibung richtig sein könnte. Es wird hinzugefügt, die „Bratstwo“ sei ein zwielichtiger Verein, dem zuzutrauen sei, dass er im Auftrag des Regimes gezielt Provokationen suche. Die Logik der Ereignisse unterstützt diese Vermutung allerdings nur zum Teil. Für die These von einer gezielten Provokation des Regimes spräche zum Beispiel, dass die maskierten Angreifer unmittelbar vor dem Präsidentenpalast plötzlich mit einem Bagger auf die Polizei zufuhren. (Wie kriegt man an einen so stark gesicherten Ort ohne Hilfe von oben einen Bagger?) Gegen die These der gezielten Provokation ließe sich einwenden, dass die Prügelei in der Bankowa ein absoluter Einzelfall blieb. Hätte das Regime tatsächlich bewusst Feuer legen wollen, wäre es systematischer vorgegangen. Am Montag hält bleibt die Staatsgewalt unsichtbar. Am gesperrten Chreschtschatik herrscht gelöste Feiertagsstimmung. Aus Lautsprechern tönt das Lied an die Freude.
Im eroberten Rathaus genießen die Kiewer den neu erworbenen Besitz ihres „Gor-Sowjet“, wie es der Sitz des Stadtrats auf Russisch heißt. Im himmelhohen Festsaal mit seinem hochstrebenden Säulen haben sie eine provisorische Stadtverwaltung eingerichtet. Die Opposition ist ohnehin der Ansicht, Kiew mit seiner soliden proeuropäischen Mehrheit habe seit Sommer keine legitime Führung, weil das Parlament die Wahl des Bürgermeisters, die eigentlich für dieses Jahr vorgesehen war, auf 2015 verschoben hat. Jetzt sitzt also die provisorische Stadtverwaltung in einem überfüllten Saal, Menschen laufen herein und wieder hinaus, in den Ecken liegen schlafend und ungewaschen Demonstranten, die die letzte Nacht auf den Straßen verbracht haben, Megaphone stehen auf dem Tisch, Fahnen und Transparente überall. Ein junger Mann, der sich als Olexander vorstellt, erklärt, die Revolution habe provisorische Ausschüsse gebildet, um „die Rechte des Volkes wahrzunehmen“. Den bisherigen Bürgermeister Alexander Popow, einen Mann des Präsidenten, betrachte man nicht mehr als den Repräsentanten der Stadt. „Seine Rechte sind erloschen“, bis zur nächsten Wahl würden die provisorischen Ausschüsse die Angelegenheiten Kiews regeln. „Und das alles,“ betont Olexander, „ist völlig legal“.
Der Maidan, das Herz der Stadt, liegt ein paar Schritte weiter. Eine Tribüne ist aufgebaut, die Arbeiten am Christbaum, der jetzt hier eigentlich stehen sollte, sind jäh unterbrochen worden. Der Baum war gewissermaßen der Auslöser der Revolution geworden. Als in der Nacht zum Samstag die Polizei erfolglos und gewaltsam versuchte, den Maidan zu räumen, und dabei jene „Kinder geschlagen“ wurden, die welche die Menschen so empörten, hatte der Vorwand gelautet, die Opposition behindere die Ausschmückung des Christbaums. Der Vorwurf ist wohl nicht unberechtigt gewesen. Tatsächlich steht der Baum – oder genauer: ein rohes Stangengerüst, das später als Baum verkleidet werden sollte – bis heute unvollendet auf dem Marktplatz. Statt Christbaumkugeln schmücken es Fahnen und Transparente, die Spitze fehlt.

Eine Kantine wird zur Hauptfutterstelle

Von der anderen Seite des Platzes blinkt ein gewaltiger Bildschirm. Er hängt an der Fassade des Gewerkschaftshauses, welches der vielleicht bemerkenswerteste Bau der spätsowjetischen Breschnjew-Moderne im Herzen Kiews ist. Auch dieses Gebäude ist in der Hand der Revolution, was aus zwei Gründen nicht unbedeutend ist. Erstens steht damit der alles beherrschende Bildschirm der Opposition zur Verfügung, zweitens die Kantine, auch sie ein Schmuckstück für Nostalgiker der späten Sowjetunion, wo es von Schaschlik über Gurken bis zu Borschtsch alles gibt, was die ukrainischen Mägen freut. Die Kantine ist jetzt zur Hauptfutterstelle dieser Revolte geworden. Im dichten Geruch von Suppe, Gurken uns Speck schmieren Dutzende von schwitzenden Frauen, junge wie alte, Wurstbrote, kochen Tee, schneiden Gemüse.
Im Obergeschoss der Sitz des „Kommittees für Nationalen Widerstand“, der Revolutionsführung. Die Führer der drei wichtigsten Oppositonsparteien gehören ihm an, der Boxweltmeister Vitali Klitschko von „Udar“, Arsenij Jazenjuk von „Batkiwschtschina“, der Partei der inhaftierten früheren Ministerpräsidentin Julija Timoschenko, sowie Oleh Tjahnibok von der kleinen nationalistischen „Swoboda“. Fünf Vertreter gesellschaftlicher Organisationen ergänzen die Gruppe. Welche Ziele sie haben? Im revolutionären Gewusel des Gewerkschaftshauses ist zuletzt ein Sprecher auffindbar gewesen. Man fordere, sagt er, den Rücktritt der Regierung, eine vorgezogene Parlamentswahl und einen Amtsverzicht Janukowitschs. Ohne das erreicht zu haben, so fügt er hinzu, werde man nicht gehen, und wenn die Besetzung des Kiewer Zentrums Wochen oder Monate dauern sollte. Hinter ihm laufen Frauen mit Kleidersäcken die Treppe hinunter. Unten sind die Magazine der Revolution: ganze Zimmer voll mit gespendeten Pullovern, Hosen, Wollsocken, Anoraks und Mänteln – Revolutionsbedarf für kalte Nächte. Wenn es nach der Wäsche geht, kann diese Revolution nur gelingen.

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